Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 293-295

Verfasst von: Norbert Angermann

 

Ljudmila M. Vorobeva: Istorija Latvii ot Rossijskoj imperii k SSSR. Moskva: Istoričeskaja pamjat, 2011. 383 S. ISBN: 978-5-91862-002-1.

Das vorliegende Buch bezieht sich auf die Geschichte des lettischen Gebiets seit seiner Einverleibung in das Russische Reich im 18. Jahrhundert (mit sehr kurzem Rückblick auf die ältere Zeit). Anders, als der Titel verstanden werden könnte, wird dabei keine gleichmäßige Darstellung der Bereiche des geschichtlichen Lebens erstrebt, sondern das russisch-lettische Verhältnis steht sehr stark im Vordergrund. Erschienen ist die Monographie in einer ungezählten Buchreihe des MoskauerRussländischen Instituts für strategische Studien. Dieses untersteht dem russischen Präsidenten und ist u.a. für die Untersuchung der Beziehungen Russlands zu anderen Ländern zuständig. Bei der Autorin handelt es sich um eineleitende wissenschaftliche Mitarbeiterindieses Instituts.

Damit kann man von vornherein erwarten, dass die Darstellung der heutigen Haltung Moskaus gegenüber den baltischen Staaten entspricht und mit seiner aktuellen Geschichtspolitik übereinstimmt. Dennoch wirkt es überraschend, mit welcher Einseitigkeit die Entwicklung der russisch-lettischen Beziehungen hier behandelt wird. Hauptziele heftiger Polemik bilden dieethnokratischen ElitenLettlands und die national orientierte lettische Historiographie, auch die der Emigration. Weitere Angriffe richten sich gegen die Deutschen, die einstigen Konkurrenten der Russen beim Kampf um das Baltikum. In ihrer Einleitung erklärt die Autorin, sie wolle mit ihrem Buch auch eineAntwortauf propagandistische Angriffe gegen Russland und seine Geschichte geben. Insbesondere geht es ihr um eine Zurückweisung desMythosvon der Okkupation des Baltikums durch die Sowjetunion im Jahre 1940 und wieder 1944/45. Das Buch besitzt insofern Charakterzüge einer Kampfschrift, doch ist es nicht als solche einfach abzutun. Denn die Autorin äußert sich mit großem argumentativem Aufwand und unter Heranziehung von Literatur in mehreren Sprachen, gelegentlich sogar von Archivalien. Zu dem gegebenen aktuellen Thema der russischen Geschichtspolitik liegt hiermit also eine ambitionierte Publikation vor, die mit einem normalen wissenschaftlichen Apparat versehen ist.

Bei der Behandlung der Zeit bis zum Untergang des Zarenreiches gelangen die Deutschbalten als Träger der baltischen Sonderstellung im Russischen Reich und als Unterdrücker der Letten in das Blickfeld. Auffällig ist die Hochschätzung des Slavophilen Jurij Samarin, der wegen seiner starken Kritik an den Privilegien der Deutschbalten und als Fürsprecher der russischen Machtposition im Baltikum zu Wort kommt. Von sowjetischen Darstellungen weicht auch die Idealisierung der russischen Geistlichkeit ab, die seit den 1840er Jahren, als ein Teil der lettischen und estnischen Bauern zur Orthodoxie übertrat, in den russischen Ostseeprovinzen stärker präsent war. Zutreffend wird festgestellt, dass sich die Letten bei ihrem nationalen Erwachen zunächst positiv an Russland orientierten. Für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark wirksame Sprach- und Verwaltungspolitik St. Petersburgs im Baltikum lehnt die Autorin den BegriffRussifizierungals tendenziös ab, während sie den Widerstand der Deutschbalten gegen jene Eingriffe alsaggressivkennzeichnet. Eingehend behandelt sie die Teilnahme der Letten an der Revolution von 1905, die das lettisch-deutsche Verhältnis stark belastete.

Nach den russischen Revolutionen von 1917 befürwortete die Mehrheit der Letten gemäß der grundsätzlich zutreffenden Darlegung von Vorobeva zunächst die Existenz eines autonomen Lettland im Rahmen Sowjetrusslands, während Karlis Ulmanis, der erste Regierungschef des unabhängigen Lettland, in der Umbruchszeit wenig Rückhalt in der Bevölkerung besaß. Deutsche Truppen unterstützten eine Zeitlang Ulmanis und trugen wesentlich zur Zerschlagung der Sowjetmacht bei, die sich Ende 1917 und stärker Ende 1918 in Teilen des lettischen Gebiets etabliert hatte. Die Entstehung des unabhängigen Lettland sei also nur dank des deutschen Einsatzes (und mit Unterstützung durch die Westalliierten) möglich gewesen, so Vorobeva.

Dass für die gesamte Entwicklung Lettlands aber nicht jene besondere Konstellation, sondern die zur Idee des eigenen Staates führende moderne nationale Bewegung maßgebend war, wird von ihr nicht in Betracht gezogen. Bezeichnenderweise hat sie Probleme damit, dass Lenin durch den lettisch-sowjetischen Friedensvertrag vom 11. August 1920 die Trennung Lettlands von Russland anerkannte. Im Kontext ihrer Erwägungen dazu lobt sie Stalin, der sich alsnationaler Führer mit pro-imperialer Denkweisebewährt habe (S. 180).

Bei der Behandlung der Zwischenkriegszeit diskreditiert die Autorin die Republik Lettland in jeder Weise. Damit unterscheidet sich ihre Darstellung kaum von einer solchen aus der Sowjetzeit. Im Falle der Ereignisse von 1939–1940, die zur Einverleibung der baltischen Staaten in die UdSSR führten, sieht sie sich aber vor die Aufgabe einer modifizierten Deutung gestellt. Denn bei dem heutigen allgemeinen Kenntnisstand lässt sich die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939, in dem Lettland und Estland der sowjetischen Seite alsEinflusssphärezugesprochen wurden, nicht übergehen, und ebenso lässt sich nicht mehr behaupten, dass im Sommer 1940 in den baltischen Staaten einesozialistische Revolutionstattfand. Die Autorin zieht nun einen Trennstrich zwischen dem Vertrag von 1939 und dem Geschehen im folgenden Jahr. Der Vertrag wird in Fortsetzung früherer Rechtfertigungen mit dem Sicherheitsbedürfnis der UdSSR erklärtder geheime Zusatzvertrag habe die Bildung einer Schutzzone gegenüber den Deutschen ermöglicht. Die Ereignisse im Sommer 1940 (u.a. Scheinwahlen, Ersuchen um Aufnahme in die Sowjetunion), die nach der Lozierung russischer Truppen in Lettland stattfanden, erklärt die Autorin im Wesentlichen mit der politischen Aktivität eines linken Bevölkerungsteils und der schweigenden Zustimmung der Mehrheit. Eine gewisse Rolle hätten auch die im Lande stehenden russischen Truppen gespielt, von einer Okkupation könne aber keine Rede sein. Das Unrealistische dieser Vorstellung ist offensichtlich.

In der Zeit der deutschen Besetzung Lettlands 1941–1944/45 sieht Vorobeva die einheimischenethnokratischen Elitenals Kollaborateure am Werk. Dieses ihr Verhalten habe gezeigt, dass die vorangegangene Deportation nach Sibirien und Kasachstan im Prinzip gerechtfertigt war, auch wenn ein Teil der Betroffenen unschuldig litt. Hierbei bedenkt die Autorin nicht, dass die zahlreichen Repressalien in der ersten Phase der Sowjetherrschaft (1940–1941) die Bereitschaft der bis dahin keineswegs deutschfreundlichen Letten zur Kollaboration gestärkt hatten. Abschließend werden die Kriegsteilnahme von Letten auf deutscher und sowjetischer Seite sowie der Sieg der Roten Armee im Baltikum behandelt.

Wie die meisten russischen Publikationen unserer Zeit mit ähnlicher Thematik steht auch dieses Buch sehr weitgehend in der Tradition der Sowjetzeit. In diesen Zusammenhang gehören der willkürliche Umgang mit Tatsachen und die Perhorreszierung von Gegnern. Neu ist die gelegentliche Kritik an stalinistischen Repressionen, doch wird das sowjetische Herrschaftssystem als solches vorbehaltlos akzeptiert. Lettland gehört für die Autorin zumhistorischen Russland, und die Eigenstaatlichkeit der Letten ist für sie keine Selbstverständlichkeit. Man kann nur bedauern, dass der Weg zu einer glaubwürdigen Distanzierung von der sowjetischen Gewaltpolitik gegenüber den baltischen Völkern und zum Verzicht auf imperiales Denken, von einer Darstellung wie dieser her gesehen, weit ist.

Erwähnt sei noch, dass unter demselben Titel auch eine Ausgabe dieses Textes in zwei Bänden erschienen ist (Kniga 1 und 2, Moskva 2009 und 2010). Dort sind im zweiten Band zahlreiche russischsprachige Dokumente aus den Jahren 19341940 abgedruckt (S. 141–256), die jedoch fast durchweg auch schon in neueren Quellenbänden enthalten waren.

Norbert Angermann, Hamburg

Zitierweise: Norbert Angermann über: Ljudmila M. Vorob’eva: Istorija Latvii ot Rossijskoj imperii k SSSR. Moskva: Istoričeskaja pamjat’, 2011. 383 S. ISBN: 978-5-91862-002-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Angermann_Vorobeva_Istorija_Latvii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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