Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Norbert Angermann

 

Catherine Squires: Die Hanse in Novgorod. Sprachkontakte des Mittelniederdeutschen mit dem Russischen. Mit einer Vergleichsstudie über die Hanse in England. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2009. 278 S., 10 Abb., Tab. = Niederdeutsche Studien, 53. ISBN: 978-3-412-20385-6.

Die Verfasserin lehrt Germanistik an der Moskauer Lomonosov-Universität und hat seit anderthalb Jahrzehnten eine stattliche Zahl von Studien zu den mittelniederdeutsch-russischen Sprachkontakten veröffentlicht. Sie publizierte nicht nur in Russland (entsprechende Namensform der Autorin: Ekaterina Skvajrs), sondern auch in Deutschland, wo sie im Verein für niederdeutsche Sprachforschung und im Hansischen Geschichtsverein Diskussionspartner gefunden hat. Das vorliegende Werk fügt bisherige und neue Ergebnisse der Autorin und solche der sehr wenigen mit dem Thema befassten Kollegen und Kolleginnen – vor allem von Svetlana Ferdinand – zusammen. Es ist ausdrücklich auch an Historiker gerichtet.

Dem Wesen nach geht es hier aber um einen Beitrag zur Erforschung des Mittelniederdeutschen. Untersucht werden Entlehnungen aus dem Altrussischen in die Sprache der Hanse, die sich aus deren Verbindung mit Novgorod ergaben. Die Verfasserin hat dafür ein Korpus niederdeutscher Schriftquellen aus der Zeit vom 13. bis ins 16. Jahrhundert zusammengestellt, wozu die oft in beiden Sprachen überlieferten Verträge zwischen der Hanse und Novgorod, der Briefwechsel zwischen den beiderseitigen Instanzen und der innerhansische Schriftverkehr, sofern es in ihm um Novgorod geht, gehören. Bei der Auswertung dieses Materials ist die Autorin nicht speziell an einzelnen Lehnwörtern aus dem Russischen interessiert, sondern vor allem an der Übernahme von Formeln der Novgoroder Urkundensprache.

Aufgrund der linguistischen Befunde und weiterer Quellen geht Squires davon aus, dass die sprachliche Vermittlung zwischen den Handelspartnern bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein ausschließlich von Deutschen geleistet wurde. Die hansischen Boten und Dolmetscher führten die Verhandlungen, die stets in Novgorod stattfanden, auf Russisch, und die dort vereinbarten russischen Vertragstexte wurden erst danach in Visby, Reval oder Lübeck ins Niederdeutsche übersetzt. Hierbei wurden typische russische Wortverbindungen in die niederdeutschen Texte aufgenommen. Dazu gehörten die Formeln vom Hauptschlagen (sin hovet slan) der um einen Vertrag bittenden Angereisten und über die Bestätigung mittels Kreuzküssung (dat cruce kussen). Während der tradierten ersten Formel kein wirkliches Verbeugen der Gesandten bis zum Boden mehr entsprach, wies die letztere auf die tatsächliche Beeidung der Verträge durch das Küssen eines orthodoxen Kreuzes auch seitens der Hansen hin. Im weiteren hansischen Schriftverkehr lebten diese Formeln produktiv fort. So wurde das Wort crucecussinge auch zur Bezeichnung des Vertrages selbst benutzt, und es konnte im Plural (de crucecussingen) verwendet werden, was im Falle des entsprechenden russischen Abstraktums krestnoe celovanie unmöglich war. Im Vergleich zur Kreuzküssungsformel, deren Geltung durch den praktisch vollzogenen Ritus gestärkt wurde, wirkte diejenige vom Hauptschlagen in den niederdeutschen Texten weniger stark nach. Einleitungsformeln der Verträge mit für die hansische Seite ungünstigen Konnotationen wurden teilweise auch beschönigend übersetzt.

In einem Anhang des Buches wird der niederdeutsche Text eines Vertrages mit Novgorod von 1269 unter besonderer Berücksichtigung einer bisher nicht beachteten Abschrift und unter Anwendung der zuvor gewonnenen Kriterien untersucht. Die in dem Text enthaltenen russischen Transferente und das Vorhandensein zweier niederdeutscher Abschriften bestätigen nach Squires, dass es ein beglaubigtes russisches Original, das nicht erhalten ist, gegeben haben muss. Diesen niederdeutschen Text ediert die Autorin auch. Wie an nicht wenigen anderen Stellen ihres Werkes benutzt sie hier Urkunden aus dem Archiv der Hansestadt Lübeck, die bei dem deutsch-sowjetischen Archivalienaustausch im Jahre 1990 in Russland zurückgehalten worden sind. Unter den gegebenen Umständen ist die Heranziehung dieses Materials, das heute im Russländischen Staatsarchiv für altes Schriftgut (RGADA) aufbewahrt wird, zu begrüßen.

Mit einer knappen vergleichenden Untersuchung zu England verdeutlicht Squires die Eigenart der russischen Verhältnisse und bestätigt zugleich für Novgorod Festgestelltes. Durch Entlehnungen aus dem Lateinischen, aus dem Französischen, das in England im 14. Jahrhundert stark verbreitet war, und aus dem Mittelenglischen entstand auch in diesem Falle eine „regionale Variante der hansischen Urkundensprache“. Die Relevanz der behandelten Sprachkontakte ist jedoch insofern eingeschränkt, als die Entlehnungen jeweils nur in den hansisch-Novgoroder bzw. hansisch-englischen Texten anzutreffen sind. Soweit es um Novgoroder oder englische Belange ging, drangen die Neuerungen aber bis in den Sprachgebrauch der allgemeinen Hansetage vor.

Hervorzuheben sind die methodische Sorgfalt und die ungewöhnliche Belegdichte, mit denen das Weiterleben russischer Elemente im Niederdeutschen hier untersucht wird. Auch dem Historiker ermöglicht dies eine bessere Wahrnehmung der Texte. Für ihn dürfte zudem die präzise Kennzeichnung der Sprachsituation in Novgorod und der kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der Sprachvermittlung von besonderem Interesse sein. Wiederholt wird die größere kulturelle Flexibilität der Hanse festgestellt. Insgesamt hat mit diesem Buch ein innovatives Forschungsprogramm zu einem eindrucksvollen Resultat geführt.

Norbert Angermann, Hamburg

Zitierweise: Norbert Angermann über: Catherine Squires Die Hanse in Novgorod. Sprachkontakte des Mittelniederdeutschen mit dem Russischen. Mit einer Vergleichsstudie über die Hanse in England. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2009. = Niederdeutsche Studien, 53. ISBN: 978-3-412-20385-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Angermann_Squires_Hanse_in_Novgorod.html (Datum des Seitenbesuchs)

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