Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1 , S. 117-119

Verfasst von: Norbert Angermann

 

Olga V. Sevast’janova: Drevnij Novgorod. Novgorodsko-knjažeskie otnošenija v XII – pervoj polovine XV veka [Das mittelalterliche Novgorod. Die Beziehungen zwischen Novgorod und seinen Fürsten vom 12. bis zum Mitte des 15. Jh.]. Moskva, Sankt-Peterburg: Al’jans-Archeo, 2011. 404 S., 30 Abb. ISBN: 978-5-98874-062-9.

Diese Arbeit zielt auf  eine wesentliche Korrektur unseres Bildes von der politischen Geschichte des mittelalterlichen Novgorod. Die Autorin lehnt dessen übliche Bezeichnung als Republik für die Zeit bis mindestens zum Ende des 14. Jahrhunderts ab und wendet sich gegen die allgemein vertretene Auffassung, dass die politischen Freiheiten Novgorods von den Bojaren in Auseinandersetzung mit der fürstlichen Macht erkämpft worden seien. Für ihre eigene Sicht ist folgender Gedankengang grundlegend: Die Stadt am Volchov bildete neben Kiev bzw. den späteren ostslavischen Hauptstädten ein zweites Zentrum, das für die Erlangung und Behauptung der Oberherrschaft in der Rus von wesentlicher Bedeutung war. Beim Kampf der Angehörigen verschiedener Fürstengeschlechter um die großfürstliche Macht stellte die Gewinnung der Herrschaft über Novgorod deshalb ein unverzichtbares Ziel dar. Die miteinander konkurrierenden Fürsten machten den Novgorodern Zugeständnisse, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Eben darauf beruhten die besonderen Freiheiten der Novgoroder. Wegen dieses Zusammenhanges und des anhaltend starken Einflusses der Großfürsten auf Novgorod bezeichnet die Autorin dasselbe als „privilegierte großfürstliche Stadt“.

Das Ringen der Fürsten um Novgorod und die politische Haltung der Novgoroder  (der Bojaren, der Erzbischöfe) behandelt Sevastjanova vor allem auf der Grundlage russischer Chroniken. Die umfangreiche Forschungsliteratur bietet ihr nicht nur Hilfreiches, sondern sehr oft auch Anlass zu Kritik. Besonders häufig übt sie solche an dem prominenten Novgorodforscher Valentin Janin. Am Beginn der Darstellung wird kurz die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts mit beachtet, als in den verschiedenen Gebietszentren des Kiever Reiches die Etablierung von eigenen Dynastien begann. Sevastjanova ruft in Erinnerung, dass die Kiever Herrscher in Novgorod, das für den Zusammenhalt des Reiches wichtig war, keine Entstehung eines Teilfürstentums zuließen. Novgorod blieb eine otčina (Vätererbe) der Kiever bzw. später der Vladimir-Suzdaler Fürsten  und wurde vielfach von dorthin entsandten Angehörigen ihrer Familien regiert.

Nach dem Tode des Kiever Fürsten Mstislav Vladimirovič († 1132), der noch einmal Macht im ganzen Reich ausgeübt hatte, brachen Auseinandersetzungen zwischen den Mstislaviči und anderen Fürstengeschlechtern aus. In Novgorod amtierte damals Vsevolod, der älteste Sohn Mstislavs, als Fürst. Das spektakulärste Ereignis jener Zeit war die Vertreibung dieses Fürsten durch die Novgoroder im Jahre 1136, was in der Literatur mit der Einführung republikanischer Strukturen in Verbindung gebracht wird. Dagegen zeigt die Autorin, dass das Geschehen von 1136 eine Folge des zeitweiligen Erstarkens  des  Fürstengeschlechts der Olgoviči war, das dazu führte, dass mit dem Fürsten Svjatoslav in jenem Jahr einer der Ihren auf den Novgoroder Thron gelangte. Wir haben es hier also nicht mit einem „antifürstlichen Aufstand“ (Janin) zu tun, sondern mit einem Beispiel für den Rivalitätskampf der Fürsten in Novgorod, in den die Bevölkerung involviert war. Nach einer Vermutung von Sevastjanova verkündeten die Mstislaviči  um diese Zeit erstmals das Recht der Novgoroder, selbst einen Fürsten zu wählen, der jedoch das Fürstentum aus der Hand des Großfürsten erhalten sollte.  Eine solche Deklaration hätte gegebenenfalls den Zweck gehabt, die Akzeptanz der Mstislaviči in Novgorod zu stärken.

Beträchtlichen Raum widmet die Autorin der Untersuchung von politischen Symbolen, die das Novgoroder Streben nach Unabhängigkeit von den Kiever bzw. den Vladimir-Suzdaler Fürsten zu belegen scheinen. Dies gilt u.a. für die bekannte Novgoroder Ikone der „Muttergottes mit dem Zeichen“ (Bogomater Znamenie) aus dem 12. Jahrhundert. Der Überlieferung zufolge bewirkte dieses Marienbild die Abwehr der Truppen des Vladimir-Suzdaler Fürsten Andrej Bogoljubskij, als diese 1170 Novgorod belagerten. Sevastjanova bringt nun Argumente dafür bei, dass die Ikone kein Symbol antifürstlichen Kampfes war, sondern ein solches der Novgoroder Anhänger der traditionellen Verbindung mit den Kiever Fürsten. Auch die weiße Mitra, die von den Novgoroder Erzbischöfen seit dem 14. Jahrhundert getragen wurde, fungierte nicht als Symbol der Autonomie des Erzbistums, ganz zu schweigen vom Geltungsanspruch der Novgoroder Bojaren, mit dem die Mitra in der Forschungsliteratur ebenfalls in Verbindung gebracht wurde. Sie stellte vielmehr ein Zeichen geistlicher Autorität dar und war in der Rus über Novgorod hinaus verbreitet.

Eine „freie Stadt“ (volnyj gorod) war Novgorod für die Autorin erst im späten 14. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Damals übten die Großfürsten von Litauen längere Zeit eine schwache Oberherrschaft über das Novgoroder Land aus. Bezeichnenderweise wurde die Stadt seit Beginn der achtziger Jahre des 14. Jahrhunderts nicht nur – wie bereits früher – inoffiziell, sondern auch in Urkunden „Groß-Novgorod“ (Velikij Novgorod) genannt. Im Jahre 1385 kam es zu einer Gerichtsreform, gemäß der die bisherige Teilnahme des Fürsten an der obersten Rechtsprechung entfiel und die letztere dem Erzbischof sowie den beiden höchsten weltlichen Amtsträgern der Stadt übertragen wurde – dem posadnik (Leiter der Politik und Verwaltung) und dem tysjackij (u.a. Anführer des Volksaufgebots). Was das in der Literatur besonders umstrittene veče (Volksversammlung) betrifft, so sieht die Autorin in ihm für die Zeit seit dem 11. Jahrhundert durchaus eine Form der Einbeziehung der Novgoroder Bevölkerung in das politische Leben. Sie zeigt aber, dass die mehr oder weniger großen Versammlungen häufig auf Initiative bzw. im Interesse der Großfürsten oder ihrer fürstlichen Widersacher einberufen wurden. Im Gegensatz zu anderen Forschern, die das veče als die seit alters wichtigste politische Institution Novgorods betrachten, legt Sevastjanova dar, dass es erst in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts zu einem eigenständigen politischen Machtträger mit legislativer Kompetenz wurde (von Seiten der Moskauer Großfürsten gab es damals wegen eines innerdynastischen Konflikts keinen Widerstand). Während die Autorin also die Rolle des veče für den Gesamtverlauf der Novgoroder Geschichte einschränkt, hebt sie die Bedeutung der bisher wenig beachteten gemeinsamen Eidesleistungen auf eine Ikone oder ein Kreuz für den Zusammenhalt der Novgoroder hervor.

Sehr gründlich werden die politischen Auffassungen des herausragenden Novgoroder Erzbischofs Evfimij II. (1429–1458) behandelt, dem man in der Forschungsliteratur eine antimoskauische Haltung zugeschrieben hatte. Sevastjanova widerlegt dies anhand eines zeitgenössischen chronikalischen Textes, der am Hofe Evfimijs entstand. Sie erkennt hier und in weiteren Zeugnissen eine Haltung der Erzbischöfe, die erklärlich macht, dass es für Schritte, die 1478 zur Einverleibung Novgorods in den Moskauer Staat führten, von dieser Seite sogar Zustimmung gab. Entsprechend ihrer Gesamtkonzeption hebt die Autorin hervor, dass die privilegierte Stellung Novgorods ihr Ende finden musste, nachdem das bis dahin an Novgorod interessierte Großfürstentum Litauen durch den Vertrag mit Moskau von 1449 ostpolitisch endgültig in die Defensive geraten war und auch keine russischen Teilfürsten mehr mit den Moskauer Herrschern konkurrieren konnten.

Mit diesen knappen Hinweisen auf einiges aus dem reichen Inhalt des Buches sind zentrale Anliegen der Autorin vielleicht doch wenigstens angedeutet. Hervorzuheben ist, dass man hinfort nicht mehr von einem ständigen Antagonismus zwischen den Novgorodern und der fürstlichen Macht ausgehen kann. Außerdem ist besonders anzuerkennen, dass Sevastjanovas Idee der Konkurrenz zwischen den Fürsten als Grundlage für die Privilegierung Novgorods ein erhebliches Erklärungspotential besitzt. Mit seiner Originalität, breiten Problemstellung und Eindringlichkeit stellt das Werk eine sehr wesentliche Bereicherung der Novgorod-Literatur dar.

Norbert Angermann, Hamburg

Zitierweise: Norbert Angermann über: Ol’ga V. Sevast’janova: Drevnij Novgorod. Novgorodsko-knjažeskie otnošenija v XII – pervoj polovine XV veka [Das mittelalterliche Novgorod. Die Beziehungen zwischen Novgorod und seinen Fürsten vom 12. bis zum Mitte des 15. Jh.]. Moskva, Sankt-Peterburg: Al’jans-Archeo, 2011. 404 S., 30 Abb. ISBN: 978-5-98874-062-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Angermann_Sevastjanova_Drevnij_Novgorod.html (Datum des Seitenbesuchs)

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