Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 295-296

Verfasst von: Andres Andresen

 

Karsten Brüggemann / Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 361 S., 40 Abb. ISBN: 978-3-412-20601-7.

Karsten Brüggemann, Professor der estnischen und allgemeinen Geschichte an der Universität Tallinn, und Ralph Tuchtenhagen, Professor für Skandinavistik/Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, haben eine übersichtliche Geschichte der Stadt Tallinn verfasst. Verschiedene Aspekte der Geschichte Tallinns – in der älteren deutschsprachigen Tradition Reval – sind von vielen Autoren, die unterschiedliche Forschungstraditionen repräsentieren, untersucht worden. Darunter sind deutschbaltische und estnische Historiker besonders zahlreich vertreten. Jedoch können zusammenfassende Gesamtdarstellungen der Geschichte der Stadt an den Fingern einer Hand abgezählt werden. Der grundsätzliche Mangel der früheren Gesamtdarstellungen besteht in einem einseitigen Blickwinkel, etwa einer Perspektive, die sich hauptsächlich auf die deutschbaltische Volksgruppe oder auf die sowjetische Ideologie konzentrierte. Die starke Seite der Arbeit Brüggemanns und Tuchtenhagens besteht in der Überwindung solch einseitiger Blickwinkel und in einer im Wesentlichen ausgeglichenen Übersichtsdarstellung sowohl der politischen, Sozial-, Wirtschafts-, Religions- als auch der Kulturgeschichte Tallinns, bei der alle Nationen, die in der Stadt gelebt haben, einbezogen werden.

Das Buch ist nach dem chronologischen Prinzip in vier größere Abschnitte eingeteilt: Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert), Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert), Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Tallinn im 20. Jahrhundert. Der Autor der Abschnitte Mittelalter und frühe Neuzeit ist Tuchtenhagen, die Kapitel zum 19. und 20. Jahrhundert stammen von Brüggemann. Beide Autoren haben sich beim Schreiben des Buches hauptsächlich auf Sekundärliteratur gestützt, wobei sowohl ältere Standardwerke als auch neueste Untersuchungen mit einbezogen worden sind; die Verwendung der letzteren ist bei verschiedenen Themen jedoch etwas ungleichmäßig. Die Gliederung des Buches in kleinere Unterabschnitte und Kapitel ist gut gelungen, was einen schnellen Zugriff auf Themen, die den Leser interessieren, erlaubt. Der Haupttext wird durch Textboxen, die Sonderfragen gewidmet sind, ergänzt, die im Unterschied zum Haupttext auch mit Quellenverweisen versehen sind. Als Ergänzung dienen zusätzlich noch Illustrationen, die Chronologie der wichtigeren Ereignisse, eine Auswahlbibliographie, ein Register der Orts- und Straßennamen und ein Personenregister. Für einen Leser, der sich in der Thematik nicht so gut auskennt, wird das Verständnis der Stadtgeschichte durch die größtenteils sachkundige Präsentation des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrundwissens erleichtert.

Die Themenauswahl der Autoren und deren Darstellung sind meistens gut gelungen. Unter den wenigen Mängeln fällt zum Beispiel auf, dass die außerordentlich schwierigen Lebensbedingungen in der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg nicht behandelt werden. Leider sind bei der Behandlung einiger Themen die Proportionen misslungen. So ist zum Beispiel dem Naziterror zweimal so viel Raum gewidmet wie dem Sowjetterror, obwohl  in der Geschichte Tallinns und Estlands das Ausmaß des letzteren eindeutig das des ersteren übertraf.

Ernsthafte Fakten- oder Interpretationsfehler kommen selten vor. Zum Beispiel wird auf Seite 52 der Stadtrat von Tallinn als Appellationsgericht der Hansestädte Narva und Wesenberg (estnisch Rakvere) erwähnt. Allerdings hing die Tatsache, dass gegen die Beschlüsse der Magistrate von Narva und Wesenberg in Tallinn beim Magistrat appelliert werden konnte, nur damit zusammen, dass in allen drei Städten das Lübecker Recht galt. Ein zentrales Ziel des mittelalterlichen Narva war es, mit Tallinn beim Handel zu konkurrieren; deshalb arbeitete Tallinn aktiv und erfolgreich darauf hin, dass Narva nie Mitglied der Hanse wurde. Auch Wesenberg gehörte nicht der Hanse an. Auf Seite 129 wird behauptet, dass die Stadt in Kirchenangelegenheiten unter schwedischer Herrschaft weitgehend autonom blieb. In Wirklichkeit wurde aber nach der Einführung des Kirchengesetzes von 1686 die kirchliche Leitung der Stadt Tallinn auf Befehl des absolutistischen Königs Karl XI. dem Bischof von Estland unterstellt und das Stadtkonsistorium aufgelöst.

Einzelne Mängel schaden dem im Großen und Ganzen positiven Eindruck, den das Buch hinterlassen hat, jedoch nicht. Es handelt sich um ein Übersichtswerk, das den Anforderungen der heutigen Geschichtswissenschaft genügt. Interessanten und vielseitigen Lesestoff findet darin sowohl der Tourist, der Tallinn besucht, als auch der Kenner der Stadtgeschichte. In Bezug auf ein breiteres Publikumsinteresse wäre vielleicht noch hervorzuheben, dass die Stadt Tallinn, deren mittelalterliche Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO eingetragen worden ist, im Jahre 2011 Kulturhauptstadt Europas war.

Andres Andresen, Tartu

Zitierweise: Andres Andresen über: Karsten Brüggemann / Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 361 S., 40 Abb. ISBN: 978-3-412-20601-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Andresen_Brueggemann_Tuchtenhagen_Tallinn.html (Datum des Seitenbesuchs)

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