Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H. 4

Verfasst von: Andrej Andreev

 

Universitet i gorod v Rossii (načalo XX veka) [Universität und Stadt in Russland (Anfang des 20. Jahrhunderts)]. Pod redakciej Trude Maurer i Aleksandra Dmitrieva. Moskva: Novoe Literaturnoe obozrenie, 2009. 778 S., Tab., Graph. ISBN: 978-5-86793-714-0.

Von den vielen Forschungsfeldern, um die sich die russische Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit erweitert hat, entwickelt sich eines besonders schnell. Es kann als „neue russische Universitätsgeschichte“ bezeichnet werden, oder auch als die „endgültige Geburt der Universitätsgeschichte auf russischem Boden“. Das kommt daher, dass man seit kurzem Ansätze und Methoden auf russische Quellen anwendet, die bereits seit 30 bis 40 Jahren für die Forschung zu den Universitäten in West- und Zentraleuropa verwendet werden. Als wesentliche Veränderung des herrschenden Paradigmas ist seit Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Schwerpunktverlagerung von so genannten „Jubiläumsgeschichten“, also pompösen Narrativen anlässlich des Geburtstags einer Universität, hin zu allgemeinen Werken über das System der russischen Universitäten mit Schwerpunkt auf Institutions-, Kultur- und Sozialgeschichte zu beobachten. Auch ein vergleichender Kontext ist für dieses neue Paradigma kennzeichnend – die russischen Universitäten werden mittlerweile nicht mehr als isoliert und sich selbst genügend angesehen, sondern als Teil des breiteren Universitätsraumes Zentral- und Osteuropas mit engen Verbindungen und parallelen Entwicklungen untereinander. Zudem wird nun die deutsch-russische Wechselseitigkeit in der Universitätsgeschichte in größerem Umfang erforscht, wobei die Untersuchungen der deutschen Universitätskonzeptionen und -erfahrungen dabei helfen, die russischen ‚Abweichungen‘ besser zu verstehen und zu erklären.

Auch der unter der Redaktion von Trude Maurer und Aleksandr Dmitriev herausgegebene Sammelband „Universität und Stadt in Russland (zu Beginn des 20. Jahrhunderts)“ folgt ganz diesen neuen Tendenzen in der aktuellen russischen Universitätsgeschichtsforschung. Trude Maurer setzt damit die Reihe von Publikationen fort, die in dem von ihr geleiteten Forschungsprojekt über russische und deutsche Universitäten im Ersten Weltkrieg entstanden sind (siehe: Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 2006). Im neuen Band wird ein erweiterter Zeitraum untersucht, nämlich unter Einbeziehung der dem Krieg unmittelbar vorausgehenden Ereignisse. Dabei werden die Hauptprobleme der Universitätsentwicklung in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. Dieser Zeitraum verdient umso mehr Aufmerksamkeit, als hier in mancher Hinsicht noch Vorurteile aus der sowjetischen Geschichtsschreibung vorherrschen, welche die Universitäten jener Zeit nur als Stätten der revolutionären Studentenbewegung oder als Standorte der wissenschaftlichen Tätigkeit einzelner prominenter russischer Gelehrter beachtete. Deshalb wurde es zu einer der Hauptaufgaben dieses Bandes, das Universitätsleben im Russischen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus neuer Perspektive zu betrachten, es vielfältiger als früher darzustellen und nicht nur seine Bedeutung für die revolutionäre Bewegung zu illustrieren, sondern auch seine schöpferischen und sozialen Funktionen herauszustellen.

Die Wechselwirkungen zwischen der Universität und ihrer städtischen Umgebung liefern dafür eine gute Basis. In der Tat entwickelten sich die Beziehungen zwischen den Universitäten und den russischen Städten nach den großen Reformen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit der Einführung zivilgesellschaftlicher Elemente auf verschiedene Weise. Die Universitätsmitglieder etwa nahmen in bedeutendem Umfang an der kommunalen Selbstverwaltung teil, und die soziale und kulturelle Infrastruktur der Städte wurde stark von den Universitäten beeinflusst. Auch die Universitäten selbst waren von den Leistungen der Städte, die über die Wohn- und Arbeitsbedingungen der Studenten und Professoren bestimmten, abhängig. Eine positive Rückwirkung der Universitäten auf die Städte war der Statusgewinn für die letzteren, rangierten doch die Universitätsstädte in Russland gleich hinter den Hauptstädten, was dazu führte, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Konkurrenzkampf entstand, in welchen Städten neue Universitäten gegründet werden sollten. Doch wie die Autoren des Sammelbandes gut erklären, existierte ein auch für das Russische Reich höchst charakteristisches Spannungsfeld in dem Kräftedreieck „Universität – Stadt – Zentralregierung“, das zu vielen Konflikten und Konfrontationen führte.

Alle genannten Probleme wurden bis jetzt von der russischen Geschichtswissenschaft noch nicht bearbeitet. Eine besondere Neuheit stellt der komparative Ansatz, den Maurer in ihrem Einführungsartikel eingehend erläutert, dar: Untersucht werden die Rolle der Universität für die Entwicklung der Stadt, die räumliche Lage der Universität innerhalb der Stadt, der quantitative Anteil der Universitätsmitlieder an der Stadtbevölkerung und deren soziale Zusammensetzung, die ökonomische Bedeutung der Universität für den Stadthaushalt, die Stellung der Professoren und Studenten im öffentlichen Leben der Stadt, die Beteiligung der letzteren am kommunalen politischen Leben usw. Gab es Gemeinsamkeiten bzw. Wechselwirkungen zwischen Stadtbewohnern und Universitätsangehörigen, inwieweit war das Universitätsleben von dem in der Stadt abgesondert, oder hatte es umgekehrt Auswirkungen auf die Entwicklung der Stadt? Während für die Universitäten in Deutschland viele dieser Fragen schon beantwortet worden sind, stellen sie in Bezug auf die russischen Universitäten nach wie vor eine Herausforderung für die Wissenschaft dar.

An deren Lösung versuchen sich die Aufsätze russischer Historiker im vorliegenden Sammelband. Größtenteils sind sie der Beschreibung einzelner Universitäten in ihrem jeweiligen städtischen Milieu gewidmet. Von insgesamt neun Universitäten im Russischen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden vier – zwei hauptstädtische (St. Petersburg und Moskau) und zwei aus den Randgebieten (Dorpat und Kazan’) – ausgewählt. Diese Auswahl mit der zu jener Zeit noch immer als „Tor nach Europa“ geltenden Universität in Dorpat und der als „Tor nach Asien“ angesehenen Universität Kazan’ kann man als repräsentativ ansehen.

Für zwei der Aufsätze, nämlich die von E. A. Rostovcev und D. A. Cygankov, steht die große politische Bedeutung der Universitäten von St. Petersburg und Moskau für ihre jeweilige Stadt im Mittelpunkt: Mit Hilfe neu entdeckter Quellen beleuchten die Autoren wichtige Themen wie das Verhältnis von Universität und Stadtduma oder die Universitäten als Zentren liberalen Denkens, welche die Entstehung zivilgesellschaftlicher Institutionen ermöglichten. S. Tamul und I. Giljasov äußern sich in ihren Aufsätzen über die Universitäten in Dorpat und Kazan vorwiegend zu sozialgeschichtlichen Fragen und gehen ausführlich auf die Thematik der nationalen Minderheiten an den Universitäten ein, darunter auf das Problem der (ethnisch) fremden Umgebung und der daraus folgenden Politik der „Russifizierung“. Von dieser Linie scheint der Aufsatz von A. Dmitriev etwas abzuweichen; der Autor legt einen Grundriss der Regierungspolitik in der „Universitätsfrage“ und über die Versuche zur Reform der Universitäten im Zeitraum von 1905 bis 1917 vor. Leider findet das komparative Paradigma, das von T. Maurer so überzeugend vorgestellt wurde, nur in dem von ihr selbst geschriebenen Aufsatz über die Dorpater und Straßburger Universitäten Anwendung, während in anderen Artikeln diese Perspektive vollständig fehlt. So sucht man zum Beispiel vergeblich nach einem Vergleich der hauptstädtischen Universitäten im Russischen Reich mit der Universität Berlin. Dennoch ist das neue, vielfältige und umfangreiche Material des Sammelbandes von großem Wert für die Forschung zur russischen Universitätsgeschichte und ein Ausgangspunkt für weiterführende Analysen.

Andrej Andreev, Moskau

Zitierweise: Andrej Andreev über: Universitet i gorod v Rossii (načalo XX veka) [Universität und Stadt in Russland (Anfang des 20. Jahrhunderts)]. Pod redakciej Trude Maurer i Aleksandra Dmitrieva. Moskva: Novoe Literaturnoe obozrenie, 2009. ISBN: 978-5-86793-714-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Andreev_Maurer_Universitet_i_gorod.html (Datum des Seitenbesuchs)

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