Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 626-628

Verfasst von: Andrej Andreev

 

August Ludwig (von) Schlözer in Europa. Hrsg. von Heinz Duchhardt und Martin  Espenhorst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. VIII, 272 S., 1 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 86. ISBN: 978-3-525-10103-2.

Der 200. Todestag des bedeutenden deutschen Aufklärers, Historikers, Staatswissenschaftlers und Publizisten August Ludwig (von) Schlözer im Jahre 2009 wurde zum Anlass genommen, in seinem Geburtsort Kirchberg an der Jagst (Gaggstatt) eine Konferenz unter dem TitelAugust Ludwig (von) Schlözer in Europa zu organisieren. Die auf dieser Konferenz gehaltenen Vorträge liegen den Beiträgen des hier rezensierten Sammelbandes zugrunde.

Die (größtenteils) deutschen, aber auch die italienischen und ungarischen Historiker, die zu dieser Veröffentlichung beigetragen haben, hatten sich zum Ziel gesetzt, eine Bilanz der bisherigen Schlözer-Forschung zu ziehen. Lange Zeit blieb diese wichtige Figur der akademischen Forschung des 18. Jahrhunderts unbeachtet. Im 20. Jahrhundert wurden dann vorwiegend nur einzelne Seiten seines Wirkens unter die Lupe genommenso beispielsweise seine Beziehungen zu Osteuropa, sein Beitrag zur Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung, seine politische Publizistik. Und obwohl  schon lange einige biographische Arbeiten über Schlözer existierten, erlebte die Schlözer-Forschung erst im Jahr 2005 mit der Erscheinung des Buches von Martin Peters (jetzt Espenhorst)Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig von Schlözer (17351809)“ den Durchbruch: Die vielfältigen und verschiedenartigen Texte des Gelehrten wurden zum ersten Mal als Teile eines Ganzen und in ihrem gegenseitigen Zusammenhang behandelt. In diesem Sinn legte das Werk von Peters schließlich den Grundstein zu einer soliden Schlözer-Forschung. Voraussetzung für weitere Fortschritte waren nun wiederum weitere, tiefergehende Studien zu den einzelnen Seiten von Schlözers Leben und Werk. Dieser Aufgabe fühlt sich im Wesentlichen der vorliegende Sammelband verpflichtet.

Was zieht also die gegenwärtigen Forscher dazu, sich mit diesem deutschen Professor zu befassen? U. Muhlack macht in seinem Beitrag einen erneuten Versuch, denganzen“ Schlözer zu verstehen, und kommt zu dem Ergebnis, dass Schlözer in seiner Tätigkeit den Idealtyp des Gelehrten verkörperteeines Vermittlers der Welt, der  Kenntnisse sammelt und verbreitet. Man kann Schlözer kaum eine große Entdeckung zuschreiben, welche die Entwicklung eines Gebietes der Wissenschaft nennenswert beeinflusst hätte. Doch überall dort, wohin Schlözers Aktivität reichte, brachte er die Wissenschaft an sich hin, d.h. er vermittelte eine Vorstellung davon, welche grundlegende Bedeutung der genauen und systematischen Darlegung der Faktenvor allem in den Geschichts- und Staatswissenschaftenzukommt. In einer Zeit, als die öffentliche Meinung erst noch am Aufkeimen war, eignete sich Schlözer mutig derenFunktionen‘ an und bemühte sich, seine Leser an rationale, wissenschaftlich fundierte Urteile über das Handeln der Staatsmacht zu gewöhnen. In diesem Sinne kann man seine Tätigkeit als hervorragende Verwirklichung der Prinzipien der Aufklärung bezeichnen. Kein Zufall, dass uns die Anekdote überliefert wurde, dass Maria Theresia bei der Erarbeitung eines neuen Gesetzes sich dafür interessierte, was denn dazuder Schlözer“ sagen würde.

Die Reichweite der Interessen und des Wirkungskreises Schlözerssowohl in geographischer Hinsicht (von Schweden und Russland bis zu den Osmanen) als auch in wissenschaftlicherstellt zweifellos für Historiker einen Anziehungspunkt dar. Demgemäß gestaltet sich auch die Struktur des Sammelbandes. Den ersten Abschnitt eröffnen die Beiträge, die die osteuropäischen Verbindungen Schlözers, seine Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft von der Geschichte der Slawen und der russischen Geschichte, behandeln. Auch hier, betonen die Autoren, trat Schlözer vor allem als Vermittler von Kenntnissen auf. Mit Ausnahme der fundamentalen Ausgabe der Nestor-Chronik kann man seine eigenen Forschungen nur als fragmentarisch bezeichnen. Er strebte nicht danach, russische Geschichte als vollendetes Ganzes vorzustellen, noch ihre einzelnen Abschnitte umzuschreibensein Hauptanliegen war es, russische Geschichte dem deutschen Publikum näher zu bringen, neue Forschungen anzuregen und  gleichzeitig den Weg zu einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung zu weisen. Als solchen betrachtete Schlözer vor allem die geschichtskritische Methode, die er in die osteuropäische Geschichtsschreibung verpflanzt hat.

In seiner Übersicht über Schlözers Verbindungen zu den Slawen betont R. Lauer, dass das Interesse Schlözers an der slawischen Geschichte im Wesentlichen in zwei verschiedene Phasen seines Lebens fiel. Die eine ist mit seiner Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften und seinem Eintritt in die Universität Göttingen verbunden, wohin er im Jahr 1769 gerade als Kenner der slawischen Geschichte berufen worden war, obgleich er dann recht schnell zum Professor für Statistik wurde. Die andere brach um 1800 an, als Schlözer sich mit der Vorbereitung der Nestor-Chronik beschäftigte. Gleichzeitig unterbrach Schlözer seine russischen Studien während seines ganzen Lebens nicht, wie er selbst bekannte. Davon zeugen seine zahlreichen Rezensionen russischer Bücher sowie seine über Jahre andauernden Kontakte zu den russischen Studenten in Göttingen. H. Keipert untersucht in seinem Beitrag die philologischen Studien Schlözers. Deren Höhepunkt stellt die berühmteGrammatikder russischen Sprache dar, die Schlözer nur ein Jahr nach seiner Ankunft in St. Petersburg verfasste. Obwohl Lomonosov auf einige grobe Fehler in dieserGrammatikhinwies, hatte dieses Werk Schlözers, wie es Keipert mittels einer mühevollen Analyse zeigt, zweifellos wesentlichen wissenschaftlichen Wert. Aber nicht nur die slawischen Sprachen interessierten Schlözer. Der Beitrag von A. Biró schildert seine Versuche, eine finnougrische Sprachwissenschaft zu entwickeln, sowie seine Begabung als Politologe, der der ungarischen Politik lebhaftes Interesse schenkte und eine Untersuchung über die Geschichte der Ansiedlung der Deutschen in Siebenbürgen vornahm.

Während mehr als 30 Jahren unterrichtete Schlözer Politikwissenschaften in Göttingen, und dieses Interessenfeld wird zum Hauptthema des zweites Abschnittes des Sammelbandes. M. Scattola analysiert Schlözers staatswissenschaftlichen Unterricht und den von dem Gelehrten durchgeführten Übergang von der Staatswissenschaft als theoretischer Disziplin zur Staatenkunde oder Statistik als angewandte Wissenschaft. In dem Beitrag wird gezeigt, dass Schlözers Statistiklehre das Idealmodel des aufgeklärten Absolutismus skizzierte und zugleich eine Übergangsetappe zu den liberalen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts bildete. Diese Seite desSchlözer-Liberalismuswird im Beitrag von W. Burgdorf am Beispiel der Vorstellungen Schlözers von der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation untersucht. Gerade in der politischen Ordnung des Reiches wurzelten, so Schlözer, diedeutschen Freiheiten, zu welchen auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gehörte, das der Gelehrte zu schätzen wusste und auf dem seine Tätigkeit als Publizist basierte.

Gerade als Journalist und Publizist war Schlözer am besten bekannt, und dieser Seite seiner Biographie ist der dritte Abschnitt des Sammelbandes gewidmet. H. Böning zeigt in seinem Beitrag, dass Schlözer nicht nur mit denneuen Medien‘ des 18. Jahrhundertsden Zeitungenmeisterlich umzugehen wussten, sondern dass er sie auch transformiert hat, indem er über dieKunst, Zeitungen zu lesen, und über den Einfluss der Zeitungen auf ein breites Publikum nachdachte. Böning hebt den scharfsinnigen Gedanken Schlözers hervor, die Zeitungen seieneines der großen CulturMittel, durch die wir Europäer Europäer geworden sind. Schlözer sah die Zeitungen auch als Mittel zur Einigung der Nation. Zu einem ähnlichen Fazit kommt auch T. Nicklas in seinem Beitrag. Der Autor legt dar, dass sich Schlözer sehr gut der Publizistik als eines Machtfaktors bewusst war und an einigen politischen Aktionen teilnahm, die gegenDespotismus­erscheinungengerichtet waren und so ungewollt der zukünftigen Französischen Revolution den Weg bereitete, deren Ergebnisse Schlözer allerdings überaus kritisch bewertete.

Der vierte Abschnitt des Sammelbands präsentiert verschiedene Aspekte der Ansichten Schlözers als Universalgelehrter. R. Vinke fragt nach Schlözers religiösem Bekenntnis, während H. Zedelmeier die theoretischen Grundlagen seiner Ansichten über Geschichte am Beispiel der Rolle der Vorgeschichte untersucht. Der für das Konzept des ganzen Sammelbandes wichtige Beitrag von M. Espenhorst ist der historischen Konstruktion der Vorstellungen Schlözers über deneuropäischen Menschengewidmet, dessen IdentitätSchlözer zufolgein Vielem seiner Mobilität zu verdanken ist. Schlözer war einer der Ersten, der die Bedeutung des Reisens für die Europäer (insbesondere für die Deutschen) als Welterkenntnismittel hervorgehoben hat.

Es bleibt noch das Schlözersche Paradoxon, wie das abgeschiedene Milieu einer winzigen Grafschaft einen Gelehrten und Weltreisenden hervorgebracht hat, der bestrebt war, die Welt im größtmöglichen Maßstab zu entdecken, die erworbenen Kenntnisse zu rationalisieren und den anderen näherzubringen. In dem vorliegenden Sammelband wurde wieder ein Schritt zu der Lösung dieses Paradoxons gemacht, und man kann noch auf weitere Schritte in dieser Richtung hoffen.

Andrej Andreev, Moskau

Zitierweise: Andrej Andreev über: August Ludwig (von) Schlözer in Europa. Hrsg. von Heinz Duchhardt und Martin Espenhorst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. VIII, 272 S., 1 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 86. ISBN: 978-3-525-10103-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Andreev_Duchhardt_August_Ludwig_von_Schloezer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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