John Randolph The House in the Garden: The Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2007. XIII, 287 S., Abb.

Ein gelungenes Buch kann so aussehen. John Randolphs in Berkeley entstandene Untersuchung wird durch ihre Vielseitigkeit die Liebhaber der politischen Ideengeschichte wie der Familiengeschichte des Zarenreichs faszinieren. Die Studie schlägt einen Bogen von der Architekturgeschichte zum Anarchismus und vom Gartenbau zum Gendarmenstaat des Zaren Nikolaj I. Der inzwischen an der University of Illinois lehrende Autor verspricht nicht zu viel, wenn er eine „case study of the role played by home life in the making of Imperial Russian social thought“ (S. 3) ankündigt. Das Thema ist also komplex und lässt sich vielleicht als intellektuelle Biographie eines Landguts oder als kulturgeschichtliche Milieustudie auf eine verkürzende Formel bringen. Aber das eigentliche Verdienst des Buches besteht gerade darin, dass es verschiedene Themen mit der Geschichte des Guts Prjamuchino im Gouvernement Tver’ verbindet, ohne dass die Darstellung an Geschlossenheit verliert. Die Geschichte der Adelsfamilie Bakunin besitzt eine geradezu filmreife Dramaturgie. Das Landgut mit seinen Bewohnern und Besuchern dient Randolph als Prisma, um eine untererforschte Periode der russischen Geschichte – die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt steht die bewegte Geistesgeschichte jener Zeit, die der Verfasser aber nicht noch einmal in ihren oft blutarmen Verästelungen rekonstruiert. Bei ihm erscheinen die Debatten um Bildung und Literatur, Geschichte und Philosophie in einem neuen Licht, weil er die Sicht der interessierten Laien in Prjamuchino einnimmt und Ikonen der Ideengeschichte wie den Studenten Stankevič oder den Literaturkritiker Belinskij in eine lebensweltliche Beziehung zur Familie Bakunin stellt. Die beiden Intellektuellen gelten als Repräsentanten eines anderen, eines kritischen Russland. Aber Randolph geht es um Geistesgeschichte in einem weiten Sinn, nicht um eine Ästhetik des Widerstands gegen den Zaren Nikolaj I. Der damit verbundene Brückenschlag zwischen intellektuellen Vordenkern und gebildeten Mitdenkern, zwischen gedrucktem Räsonnement und Teegesprächen gelingt nur wenigen Autoren so eingängig wie Randolph.

Die Einsichten, die dieses Buch aus dem Leben in der vermeintlich trostlosen russischen Provinz gewinnt, werden keineswegs nur die Spezialisten interessieren. Die Bakunins waren weder bornierte Ausbeuter ihrer über 800 Leibeigenen noch frühe Wegbereiter einer ländlichen Zivilgesellschaft. Randolph entledigt sich solcher Deutungshülsen mit sympathischer Lässigkeit ohne Gehässigkeit. Auch wenn sie die Familie des späteren Anarchisten Michail Aleksandrovič waren, standen die Bakunins loyal zum Zarenregime. Aber auf dem hochverschuldeten Adelsgut herrschte eine liberale Gastfreundschaft und Diskussionsbereitschaft, eine Kultur des „domestic enlightenment“ (S. 201), die den berühmtesten Sohn der Familie mindestens ebenso stark prägte wie der seinerzeit in Moskau diskutierte deutsche Idealismus. Gegen die meisten Biographen von Michail Bakunin argumentiert Randolph, dass sich der spätere Freiheitskämpfer erst im Westeuropa der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts radikalisiert habe. Die nicht allein von den Bakunins gepflegte Kultur landadeliger Selbstaufklärung sei keinesfalls als fortschreitende Entfremdung vom Zarenregime zu werten, sondern wurzele vielmehr in der Zeit Katharinas II. Die Zarin hatte bekanntlich große Hoffnungen gehegt, der Adel werde ihre Zivilisierungsziele in die Provinz tragen und dort durch Bildung, kluges Wirtschaften und Herrschen indirekt die Autokratie stützen. In besonderer Weise, so arbeitet Randolph überzeugend heraus, verkörperten die Bakunins dieses Ideal. Das Streben nach moralischer Perfektion und vernunftgeleiteten Entscheidungen gehörte zu den Idealen des Familienlebens und führte, wie in den großen Familienromanen der Weltliteratur, dennoch zu Streit, Skandalen und anderen spannenden Verwicklungen. Dass der Lebensstil der Bakunins weit über die Provinz Tver’ hinaus bekannt wurde, verdankten sie nicht zuletzt ihren aufgeweckten Töchtern, die auf den Moskauer Heiratsmarkt geschickt worden waren. Die vier Mädchen gingen in der Hauptstadt durchaus eigene Wege, die sie unter anderem in das studentische Milieu führten. Auch die Mitglieder des berühmten Moskauer Zirkels um den charismatischen Stankevič gehörten bald zu den Gästen und Korrespondenten der Familie. Es ist ein Glücksfall für Randolph und seine Leser, dass diese Schriftwechsel ebenso wie das umfangreiche Familienarchiv erhalten geblieben sind. Randolph kann aus einer – für diese Epoche ungewöhnlichen – Materialfülle schöpfen. Wenn er auch an manchen Stellen die Informationen überdosiert, die er aus so unterschiedlichen Quellen wie Haushaltsdokumenten, Poesiealben, Familienchroniken oder Erinnerungen gewonnen hat, und am Ende etwas erschöpft abbricht – Randolphs Buch ist eine überaus gelungene, gut kontextualisierte Fallstudie.

Andreas Renner, Köln/Sapporo

Zitierweise: Andreas Renner über: John Randolph The House in the Garden: The Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2007. XIII, 287 S. ISBN: 978-0-8014-4542-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Andreas-Renner-Randolph-The-House-in-the-Garden.html (Datum des Seitenbesuchs)