Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 438-440

Verfasst von: Felix Ackermann

 

Barbara Epstein: The Minsk Ghetto, 19411943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2008. XVII, 351 S., 3 Ktn., 25 Abb. ISBN: 978-0-520-24242-5.

Barbara Epstein versucht mit ihrer Arbeit über das Minsker Ghetto, unser Bild von den Formen jüdischen Widerstands gegen die systematische Vernichtung im besetzten Ostmitteleuropa über die gängigen Vorstellungen hinaus zu erweitern. Der von ihr gewählte lokale Fokus auf das bis Juni 1941 sowjetische Minsk zeigt dabei eine andere Perspektive auf als die bereits etablierten zionistischen Lesarten der Shoah. Epstein versucht zu zeigen, dass es in der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) eine Form von Sowjetischem Internationalismus gab, die anders als in den Ostgebieten der Polnischen Republik zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Juden und Nichtjuden während der Shoah führte. Um dies zu belegen, schreibt sie die Geschichte des Minsker Ghettos, das bereits im Juli 1941 angelegt und im Oktober 1943 liquidiert wurde, aus der Sicht von Überlebenden, die vor Ort im Untergrund tätig waren und sich unterschiedlichen jüdischen und sowjetischen Partisanengruppen angeschlossen hatten. Epsteins Verdienst liegt darin, Menschen eine Stimme zu geben, die in der professionellen Historiographie in Israel, den USA und auch in Deutschland nur eine Randgruppe darstellen: Überlebenden der Shoah, die nicht nur aktiv gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, sondern auch nach der Befreiung 1944 bzw. der Eroberung Berlins aktiver Teil der sowjetischen Gesellschaft wurden oder blieben, weshalb uns ihre Stimme nicht vertraut ist. Barbara Epstein gibt ihnen als Zeitzeugen Raum, ihre Version von der Geschichte zu erzählen. Dabei fällt auf, dass die Sicht ihrer Protagonisten anders als die Narrationen derjenigen Überlebenden, die die Sowjetunion bzw. Polen nach Kriegsende verließen, nicht Teil der Erzählungen wurden, die das Selbstverständnis Israels prägten. Weiterhin bemerkenswert ist ihr ambivalentes Verhältnis zur sowjetischen Vergangenheit selbst: Einerseits waren sie zumeist Mitglieder von sowjetischen Partisaneneinheiten, andererseits erlebten sie selbst staatlichen sowjetischen Antisemitismus. Sie waren oft bereits vor 1941 Teil der sowjetischen Gesellschaft und blieben es auch nach 1944. Daher waren sie in vielen Fällen bis in die 1980er Jahre im eigenen Selbstverständnis und in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen in der BSSR eben nicht in erster Linie Überlebende der Shoah, sondern Angehörige des sowjetischen Widerstands.

Epsteins historiographischer Versuch, durch Empathie zu dieser Gruppe eine andere, neue Geschichte zu destillieren, ist allerdings gerade durch die Nähe zu den individuellen Lebenswegen nicht überzeugend. Es ist genau diese Nähe zu den Protagonisten, die es Epstein unmöglich macht, eine kritische Analyse ihrer Narrationen sowie einen Metadiskurs über das Zustandekommen dieser Erzählungen vorzunehmen. Eine Ursache dafür ist die stark selektiv vorgenommene Auswahl von schriftlichen Quellen aus sowjetischen, deutschen und israelischen Archiven und ihr wenig kritischer Einsatz zum Abgleich der mündlichen Überlieferungen. Eine weitere Ursache liegt im Vorgang selbst: Barbara Epstein hat sich an sowjetische Geschichte, die Stadt Minsk und die Geschichte des Holocaust vor allem durch den persönlichen Kontakt mit eben jenen Protagonisten des sowjetischen Widerstands angenähert. Ihr Verständnis ist vor allem vom Versuch geprägt, eine rationale Erklärung dafür zu finden, wie sie nach der nationalsozialistischen Verfolgung als Juden in einem System lebten, das selbst antisemitische Strukturen aufwies und ihren Beitrag am Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ausschließlich in militärischen Kategorien würdigte, während ihre Identität als Juden tabuisiert bzw. marginalisiert war. Epstein führt hier zwei zentrale Argumente aus: 1. Der Kommunismus sowjetischer Prägung sei im Gegensatz zur ideologischen Vielfalt und Konkurrenz in der Polnischen Republik in seinem Charakter inklusiv gewesen und habe bereits im Ansatz ein Angebot für alle Bürger enthalten. 2. Die Weißrussen hätten aufgrund einer verspäteten Nationsbildung nicht nur ein weniger ausgeprägtes antisemitisches Grundverständnis als etwa Polen und Ukrainer, sondern als Weißrussen hätten in der BSSR vielmehr alle Bürger gegolten, weil das Konzept der Republik ethnisch inklusiv gewesen sei. Beide Argumente sind falsch, weil sie die sowjetische Frühgeschichte und die radikale, physische Ausschaltung von alternativen Optionen sowie die systematische Vernichtung von politischer und kultureller Differenz durch die Bolschewiki ausblenden. Epstein legitimiert das im Nachgang indirekt durch das Prisma der Shoah, weil auf diese Weise mehr Solidarität freigesetzt worden sei. Dabei sah das staatliche Konzept von Nationalität sowie die Einführung von vier Amtssprachen in der BSSR sehr wohl eine Differenzierung von Weißrussen, Juden, Polen und Russen in ethnischen Kategorien vor. Epstein verzerrt die Geschichte nicht, indem sie ihre Protagonisten zu Wort kommen lässt: Für die jungen Städter, die in den 1920er und 1930er Jahren in der BSSR aufgewachsen waren, hat es sich im Nachgang so dargestellt. Aber die Autorin verweist nicht auf all diejenigen, die nicht zu Wort kommen können, weil sie von sowjetischen oder deutschen Machthabern ermordet wurden oder weil sie einer anderen Generation bzw. sozialen Schicht angehörten. So hatten junge, bereits vor 1941 gut in die sowjetische Gesellschaft integrierte jüdische Bürger immerhin eine minimale Chance, den Krieg im Wald zu überleben. Diejenigen, die ihre jüdische Identität stärker bewahrt hatten, etwa weil sie älter waren und sich innerlich gegen die Sowjetisierung wehrten, können nicht zu Wort kommen, weil sie nicht mehr leben. In diesem Sinne zeigt Epsteins Arbeit deutlich, dass in Zukunft ein tieferes Verständnis der Shoah in ihrer lokalen Ausprägung im äußersten Westen der Sowjetunion nicht ohne eine genauere Vorstellung von der Einführung lokaler bolschewistischer Strukturen im ehemaligen Ansiedlungsrayon des Russländischen Reiches zu leisten ist.

Felix Ackermann, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Felix Ackermann über: Barbara Epstein: The Minsk Ghetto, 1941–1943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2008. XVII, 351 S., 3 Ktn., 25 Abb. ISBN: 978-0-520-24242-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ackermann_Epstein_Minsk_Ghetto.html (Datum des Seitenbesuchs)

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